Text von Seite 3 links
"... Ich sah Plastiken, die mich mit meiner eigenen inneren Gefangenschaft vor und nach der letzten Flasche so radikal konfrontiert haben, daß ich davon schreiben möchte."
INNERE GEFANGENSCHAFT
von
Ernst Herhaus
Gestern also fuhren Schneeflocke und ich nach Eisenbach im Taunus. Wir hielten am Holzplatz eines Sägewerkes und sahen, auf einer Anhöhe, ein Holzhaus in einer wuchernden grünenden Wildnis. Am Fenster dieses Holzhauses erschien ein Gesicht, dann ein Arm, der herauf wies. Wir verließen den Wagen, gingen einen Teerweg hinauf.
Hinter einem Staketenzaun erschien Werner Arndt. Wir durchschritten sein Gartentor. Dann sah ich die Cager*, die Wesen, die Existenzen in den offenen Käfigen. Ich sah zuerst einen Kauernden. Sein offener Käfig war beengt. Kopf, Hände und Füße des Kauernden waren erhalten, sonst blickte ich in Hohlheit, aufgebrochene Seiten, in Leere. Ich sah mich.
Ich fragte Arndt dann noch: "Gibt es, für Sie, einen Unterschied zwischen Leiden und Unglück?" Er antwortete: "Leiden können ein für die schöpferische Arbeit fruchtbarer Zustand sein, wenn man diesen Zustand akzeptiert. Unglück kommt von außen und kann Leid auslösen." Ich erlebe es ganz anders, aber das ist ja das Lebendige in allen Sprachen, daß unterschiedlichste Verstehensweisen der selben Wörter Gespräche ermöglichen, Gewalt mindern. "Woran leiden Sie am meisten?" fragte ich. Arndt: "An der Einsamkeit, diesem geringen Kontakt zu Menschen, die Kunst interessiert." Ich sagte: "Ich empfinde meine Einsamkeit als wundersame Gabe, aber das Alleinsein und die Einsamkeit dazu, das ist oft kaum auszuhalten. Das Alleinsein empfinde ich als den geringen Kontakt zu mir selber, der meinen Hang zur Selbsteinschließung fördert. Änderte ich es nicht immer wieder, ich wäre längst tot."
Werner Arndt überlegte, dann sagte er: "Ich komme durch unsere Unterhaltung darauf, daß Einsamkeit wahrscheinlich geringer Kontakt zu mir selber ist." Wiederum ist es ganz anders bei mir und wiederum verstand ich Arndt gut, weil ich zur Kenntnis nahm, was er mir von sich sagte. Ich fragte: "Was betrachten Sie als ihr größtes Unglück?" - "Künstler geworden zu sein", sagte der nüchterne Mann. "Wie erleben Sie innere Gefangenschaft?" fragte ich. "Als meinen Zwang, solche Wesen in solchen Käfigen machen zu müssen", sagte er.
"Wie reagierte ich bei meinem Besuch in Eisenbach auf den unerwarteten Anblick Ihrer Arbeiten?" fragte ich Arndt, als er mich vor einer Woche in Frankfurt besuchte. "Sie waren sehr schweigsam. Ich fühlte sofort dieses intensive Schweigen. Zu Eva sagte ich später, daß ich Sie schon vor Jahren für einen Menschen gehalten habe, der sich vorwiegend schreibend äußert.
Ich war, damals im Chiemgau und jetzt, bei Ihrem Besuch in Eisenbach, übrigens ganz sicher, daß Sie verstehen, was ich mache." Ich fragte: "Wie reagierte ich auf die Menschenreste in den Käfigen? Antwort: "Sie sagten schließlich knapp und eindeutig, mit diesen Restexistenzen in den offenen Käfigen könnten Sie sich identifizieren und es sei Ihnen am unheimlichsten, daß die Käfige offen sind, denn damit sei es nun vollends klar, daß da wohl nie einer mehr herauskäme." - "Habe ich das tatsächlich gesagt?" fragte ich und Arndt sagte: "Wörtlich. Denn Sie waren ja viele Jahre so kaputt wie diese Wesen da, so leer, so ausgebrannt." Ich sagte: "Der Anblick solcher Wesensreste muß überzeugend erhalten bleiben."
*) Cager - Personifizierung des engl.: cage (Käfig)