Werner Arndt
Ausstellung vom 11. März - 25. April 1982
Ostdeutsche Galerie Regensburg


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Ernst Herhaus
INNERE GEFANGENSCHAFT

"...Ich sah Plastiken, die mich mit meiner eigenen inneren Gefangenschaft vor und nach der
letzten Flasche so radikal konfrontiert haben, daß ich davon schreiben möchte."

Im Herbst des Jahres 1969 transportierte Schneeflocke mich, einen Kranken mit Erfahrung in
lebendigem Verstorbensein und mit rettenden Monotonien (Schweigen, Trinken und Schreiben),
aus dem Tessin zurück in Richtung Frankfurt. Wir machten Station im schönen Chiemgau
und besuchten dort Freunde: Usch und Fred Dahmen.

Wir kamen in Pittenhart an, betraten das Haus, gerieten in eine kleine Nachmittagsgesellschaft.
Ein Mann trat in mein Blickfeld. "Werner Arndt", sagte der Mann. Ich behalf mir mit meinen
soliden Floskeln.

Der Mann, hager und still, wirkte völlig isoliert in jenem Kreis und, jenseits jeder Höflichkeit
oder Unhöflichkeit, so ernst wie ich selber. Er kam mir vor wie jener halbstumme Grieche, der
sich den Mund mit Steinen gefüllt hatte, um Sprechen zu lernen. Ich, gewöhnlich fähig, eine
Unterhaltung mit stoischer Rollenfasson über die Strecke zu bringen, zog mich von jenem
Fremden innerlich zurück. Daß er sich mir mit einem Vor- und Nachnamen vorstellte wie
jedermann, erschien mir nach einer Stunde bereits wie ein obszöner Akt. Die Unbeholfenheit
dieses Menschen in Uschs cercle ließ in meiner Krankheit Packeis entstehen. Ich witterte in
diesem Fremden inspiriertes Unglück, Begreifen des Unterschieds zwischen Unglück und
Leiden. Schließlich sagte Werner Arndt zu mir, auch er sei, wie Fred, ein Maler. Diese
Feststellung empfand ich als Ohrfeige mit der flachen Hand, als Ohrfeige nicht von Arndt,
sondern als Ohrfeige einer Hälfte von mir, die neben mir herging und für jene Hälfte von mir,
die bei mir war, fern und unkontrollierbar blieb. Ich nickte Arndt schweigend zu, zog mich nun
von allen im Raum zurück und begann zu trinken. Ich hatte längere Zeit nicht getrunken, hatte
gegen die Flasche gekämpft und wieder geschrieben. Als ich zu Usch sagte: "Hole mir eine
Flasche" und Usch, um keinen Skandal zu riskieren, die erste Flasche Wein brachte, verließ
Schneeflocke das Haus. Ich sah ihre Panik und trank noch fünf Flaschen Wein, dann eine
Flasche Birnenschnaps. Ich blieb ruhig und sprach mit niemand dort mehr, betrachtete eine
bestimmte Arbeit Freds, setzte mich dann, schon tief im Dimitrijzustand, in Uschs Küche und
schrieb eine Notiz über jene Arbeit Freds. Als ich die Notiz beendete, kam Schneeflocke zurück
und sagte mir, was ich im Dimitrijzustand gemacht hatte (Schweigen, Trinken und Schreiben).
Wir übernachteten im Hause Uschs und Freds. Beim Frühstück mit ihnen sagte ich zu Fred:
"Wir sind alle schon gestorben, es werden nur wenige sein, bei denen diese Erfahrung zu
ihren Lebzeiten eintrifft. Warum kannst du noch arbeiten? Es werden immer weniger werden,
die ihre innere Gefangenschaft begreifen und die ihr Verstorbensein mit einem lebenswerten
Tod abschließen können." Damit begann ich alles um mich herum zu vergessen.

In der Osterzeit dieses Jahres (1978) erreichte mich der Anruf einer Frau: "Eva - erinnern Sie
sich noch an einen Herbstnachmittag bei den Dahmens im Chiemgau? Herbst 1969? An den
Maler Werner Arndt?" - "Eva? Eine Frau aus München?" fragte ich. "Ja, aus München, damals
lebte ich in München. Ich war an jenem Nachmittag mit Werner Arndt gekommen, traf dort
Sie und Ihre Frau Eleonora. Schneeflocke nannten Sie sie. Gibt es sie noch?" Ich sagte: "Ja,
es gibt Schneeflocke noch und es geht ihr sogar passabel." - "Ach, ich meinte - gibt es Sie
beide noch?" fragte Eva. "Es gibt uns beide noch", sagte ich und erinnerte mich, mit meinem
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grauenvollen exakten Gedächtnis, daß ich am 9. Juli 1977 in meinem Tagebuch gefragt habe,
ob ich eines Tages in die Sprache vom Unheimlichen eintreten würde? In diesem Augenblick,
da ich zu Eva sagte, es gäbe uns beide, hatte ich den Eindruck, daß ich am Ende dieses
Jahres, des fünften Jahrs meiner fortbestehenden inneren Gefangenschaft nach dem Trinkstop,
in die Sprache vom Unheimlichen eintreten werde. "Herr Arndt hat in den ganzen Jahren
seither oft von Ihnen gesprochen und er läßt durch mich fragen, ob man sich einmal wiedersehen
könnte?" - "Das ist möglich", sagte ich und wir trafen die Verabredung.

Gestern also fuhren Schneeflocke und ich nach Eisenbach im Taunus. Wir hielten am Holzplatz
eines Sägewerkes und sahen, auf einer Anhöhe, ein Holzhaus in einer wuchernden grünenden
Wildnis. Am Fenster dieses Holzhauses erschien ein Gesicht, dann ein Arm, der herauf wies.
Wir verließen den Wagen, gingen einen Teerweg hinauf.

Hinter einem Staketenzaun erschien Werner Arndt. Wir durchschritten sein Gartentor. Dann sah
ich die Cager, die Wesen, die Existenzen in den offenen Käfigen. Ich sah zuerst einen
Kauernden. Sein offener Käfig war beengt. Kopf, Hände und Füße des Kauernden waren
erhalten, sonst blickte ich in Hohlheit, aufgebrochene Seite, Leere. Ich sah mich.
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"> Ich fragte Arndt dann noch: "Gibt es, für Sie, einen Unterschied zwischen Leiden und Unglück?"
Er antwortete."Leiden können ein für die schöpferische Arbeit fruchtbarer Zustand sein, wenn
man diesen Zustand akzeptiert. Unglück kommt von außen und kann Leid auslösen." Ich erlebe
es ganz anders, aber das ist ja das Lebendige in allen Sprachen, daß unterschiedlichste
Verstehensweisen der selben Wörter Gespräche ermöglichen, Gewalt mindern. "Woran leiden
Sie am meisten?" fragte ich. Arndt: "An der Einsamkeit, diesem geringen Kontakt zu Menschen,
die Kunst interessiert." Ich sagte: "Ich empfinde meine Einsamkeit als wundersame Gabe,
aber das Alleinsein und die Einsamkeit dazu, das ist oft kaum auszuhalten. Das Alleinsein
empfinde ich als den geringen Kontakt zu mir selber, der meinen Hang zur Selbsteinschließung
fördert. Anderte ich es nicht immer wieder, ich wäre längst tot."
Werner Arndt überlegte, dann sagte er: "Ich komme durch unsere Unterhaltung darauf, daß
Einsamkeit wahrscheinlich geringer Kontakt zu mir selber ist." Wiederum ist es ganz anders
bei mir und wiederum verstand ich Arndt gut, weil ich zur Kenntnis nahm, was er mir von sich
sagte. Ich fragte: "Was betrachten Sie als ihr größtes Unglück?" - "Künstler geworden zu sein",
sagte der nüchterne Mann. "Wie erleben Sie innere Gefangenschaft?" fragte ich. "Als meinen
Zwang, solche Wesen in solchen Käfigen machen zu müssen", sagte er. "Wie reagierte ich
bei meinem Besuch in Eisenbach auf den unerwarteten Anblick Ihrer Arbeiten?" fragte ich
Arndt, als er mich vor einer Woche in Frankfurt besuchte."Sie waren sehr schweigsam. Ich
fühlte sofort dieses intensive Schweigen. Zu Eva sagte ich später, daß ich Sie schon vor
Jahren für einen Menschen gehalten habe, der sich vorwiegend schreibend äußert.
Ich war, damals im Chiemgau und jetzt, bei Ihrem Besuch in Eisenbach, übrigens ganz sicher,
daß Sie verstehen, was ich mache." Ich fragte: "Wie reagierte ich auf die Menschenreste in
den Käfigen?" Antwort: "Sie sagten schließlich knapp und eindeutig, mit diesen Restexistenzen
in den offenen Käfigen könnten Sie sich identifizieren und es sei Ihnen am unheimlichsten,
daß die Käfige offen sind, denn damit sei es nun vollends klar, daß da wohl nie einer mehr
herauskäme." - "Habe ich das tatsächlich gesagt?" fragte ich und Arndt sagte: "Wörtlich. Denn
Sie waren ja viele Jahre so kaputt wie diese Wesen da, so leer, so ausgebrannt." Ich sagte:
"Der Anblick solcher Wesensreste muß überzeugend erhalten bleiben."

"Wie machen Sie so einen Cager?" fragte ich ihn. "Zuerst suche ich einen Menschen, der
bereit ist, sich abformen zu lassen", sagte er. Ich war sehr berührt, als Arndt sagte. "Zuerst
suche ich einen Menschen". Mir fiel ein Stoßgebet aus der Anfangszeit meiner Niederschrift
von "Kapitulation. Aufgang einer Krankheit" ein, während ich Sprache suchte: "Gott, gebe mir
einen fragenderen Geist - Abenteuer, gelinge!" Arndt fuhr fort: "Das Modell zieht sich aus. Ich
weiche Gipsbinden ein und lege sie über die Teile des Körpers, die ich abformen will." Mit
Schrecken stellte ich mir vor, daß ich mit solchen Gipsbinden bedeckt sei. Ich sagte: "Ich lebe
oft mit dem Gefühl, daß nur noch meine Stirn, meine Hände und meine Füße leben, daß alles
andere leer und ausgehöhlt ist bei mir." Arndt sagte: "Nach einer Viertelstunde werden die
Binden hart und ich nehme sie ab. Dann isoliere ich die gewonnenen Gipsformen mit einem
wachshaltigen Spezialmittel, damit sie ihre Saugfähigkeit verlieren. Anschließend lege ich
kunstharzgetränkte Glasfasersträge, Matten und Gewebe in die Negativformen.

Ich stellte mir vor, daß mir das alles zustoßen könnte. Dabei war mir, als entferne der Künstler
diejenigen Teile meines Leibes, die bisher noch in ihrer mir vertrauten Weise da waren, meine
Stirn, die Hände und die Füße. "Wenn, nach einigen Stunden, das Ganze hart ist, weiche ich
die Gipsform mit der Glasfaser-Polyestereinlage in einen Wasserbehälter ein. Die Binden saugen
sich voll Wasser und lassen sich dann von der Form lösen", sagte Arndt. Ich sah meine Stirn,
die sich von der Modellform ablöste: ihre Erhaltung bis heute verdanke ich meinem Nichttrinken
und der Hilfe der Freundinnen und Freunde in meiner Alkoholikertruppe. Dann sah ich meine
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Hände, die sich von der Modellform ablösten: ihre Erhaltung trieb mir Tränen der Beschämung
in meine erloschenen Augen. Denn mein Gehirn, lediglich Schaltstelle für die Liebe anderer
Menschen zu meiner aus Hochmut, Jähzorn und Verachtung verdorbenen Existenz, mein Hirn
war im übrigen vollkommen wertlos, weil sich in mehr als zwanzig Jahren geduldiger
Schreibschinderei, alles Denken und Harren dank fremder Liebessprache in meine Hände
verlagert hatte. Schließlich sah ich, wie meine Füße sich aus der Abformung lösten. Sie waren
der Rest dessen, was nicht hohl wurde in meinem Leben, mit meinen Füßen erreichte ich, nun
seit Jahren, immer wieder die rettende Tür zur Truppe. Arndt sagte: "Die nun gewonnenen
Positiv-Menschenteile sind bereits eingefärbt und zwar, nach meinem Wollen, in grauen
Schimmeltönen." Die Mitteilung des Künstlers erschütterte meinen Hochmut, der sich nicht
geändert hat durch mein langes Nichttrinken. Ich wurde, wie von einer fremden machtvollen
Hand, aus meinem Stuhl hochgehoben, ich wollte Werner Arndt in aufwogender Liebe
umarmen, aber ich war so krank, daß ich mich nicht getraute, sondern mich ohnmächtig
wieder hinsetzte, Arndt durchdringend und schweigend anschaute, während mir aufging, daß
das demutsvolle graue Denken vieler Nichtsüchtiger und Süchtiger mir auch an jenem Tag
half, meine anmaßenden Erwartungen zu mindern und mit unverdientem Glück an diesem Tag
williger zu meinen drei Wesensresten zu sein.

"Nun gehe ich zu meinem Probekäfig aus Eisen," fuhr Arndt fort, "ich kann den Käfig verkleinern
oder auch vergrößern, ich nehme die Teile und versuche, zunächst improvisierend, meine
Konzeption, die für die jeweilige Abformung richtige Käfiggröße, zu finden. Es hat sich ergeben,
daß ich Käfige mache, welche die in ihnen hinkünftig Existierenden fühlbar beengen".

Ich dachte an mein Käfigleben mit Schneeflocke und mit mir selber und an Schneeflockes
Käfigleben mit mir. Es war fühlbare Beengung für uns beide, aber es war (für mich in jedem
Fall) auch bejahte innere Gefangenschaft mit dieser Frau. Auf einmal sah ich mich, in den das
Kunstwerk entmystifizierenden Worten Werner Arndts, mit meinen Resten Stirn, Händen,
Füßen. Direkte geistige Schau dank der kargen Werkstattsprache Arndts: meine Stirn zur
Umschalung meiner Geistesleere, meine Hände zum Schreiben, meine Füße zum Hin- und
Hergehen im Käfig und im Arbeitsraum. Arndt fuhr fort: "Wenn im eisernen Modellkäfig die
richtige Größe für den Cager gefunden ist, fertige ich aus Holzlatten ein Negativmodell des
Käfigs. Es wird gewachst, sodann mit Glasfasersträngen und mit Harz ausgelegt." Und wiederum
sah ich mich, wie ich bin, suchtkrank und trocken, autoritär und geil, geduldig im Schaffen,
demutsvoll vor Schwachen, hochmütig gegen mich und kochend in diesen Widersprüchen.
Die unkäufliche und ruhige, entgegenkommende Sprache des Mannes, der das Anstößige in
mir freilegte durch seine Cager, war an diesem Tage jene geistige Fremdhilfe, die mich leitete,
mein Käfigleben mit mir und mit Schneeflocke und mit vielen von euch ohne Selbstmitleid zu
bejahen, mit radauloser Liebe und ohne Illusionen.

Werner Arndt, das fühlte ich, kam zu einer abschließenden Feststellung: "Nun werden dann die
Holzlatten abgeklopft. Dann montiere ich die Menschenreste fest in den für sie gemachten
und beengenden Käfig. Die Käfige haben keine Wände. "Wir standen auf und gingen beide
zum Fenster meiner Schreibeinöde, dieser Festung des Alphabets, der bleibenden Architektur
wachsender Liebe zu allen Wesen in bejahter innerer Gefangenschaft. Wir betrachteten die
großen Kastanien draußen in der Hansaallee, ein Meer aus frischem Grün. "Gewöhnlich suche
ich keine ganz jungen Menschen für meine Cager. Würden Sie mir eines Tages erlauben,
einige Teile von Ihnen abzuformen?" fragte Arndt. Mich packte Furcht, aber dann sagte ich:
"Gewiß - wenn Sie es wünschen."

(1978. Mit freundlicher Genehmigung des Autors nachgedruckt.)

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